Als vor genau 25 Jahren Samuel Huntington sein zunächst kaum beachtetes Buch „Clash of Civilization“ (in Deutschland unter dem Titel „Kampf der Kulturen“) veröffentlichte, hat er wohl selbst kaum damit gerechnet, dass seine Publikation nur wenige Jahre später den weltweiten politischen Diskurs mitprägen würde. Und dies geschah in Folge der furchtbaren Terroranschläge von 9/11. Fortan meinten allzu viele Stimmen letztlich in diesem Werk eine Art prophetische Schrift erkennen zu können, die uns schon frühzeitig insbesondere vor dem islamistischen Terror gewarnt habe. Und man war nur allzu gern bereit, über die holzschnittartige, letztlich willkürliche Einteilung der Welt Huntingtons in eine westliche, lateinamerikanische, islamische, buddhistische, hinduistische, orthodoxe etc. Zivilisation bzw. Kultur hinwegzusehen.
Für den Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen Amartya Sen unterliegt Huntingtons Werk jedoch grundlegenden Irrtümern: die Reduzierung von Identitäten auf das singuläre Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Kultur / Religion und die fehlgeleitete Einschätzung, dass Kulturen / Religionen klar umschriebene, voneinander abgrenzbare homogene Einheiten seien. Die Heterogenität z. B. der islamischen Welt wird ebenso negiert wie die dynamischen, netzwerkartigen Prozesse innerhalb einer Kultur.
Amartya Sen verurteilt denn auch die fehlgeleitete Wahrnehmung, die insbesondere im Hinblick auf Menschen muslimischen Glaubens mehr und mehr religiös gefüllt worden sei. Und so folgert er: „Die zunehmend gebräuchliche Anwendung der religiösen Identität als hauptsächlichem oder gar einzigem Klassifikationsmerkmal hat denn auch zu einer Vergröberung der gesellschaftlichen Analyse geführt. Viele Erkenntnisse gehen insbesondere dadurch verloren, dass man nicht unterscheidet zwischen (1) den verschiedenen Zugehörigkeiten und Loyalitäten, die jemand hat, der zufällig Muslim ist, und (2) seiner speziellen islamischen Identität.“ Und dies hat dramatische Folgen: „Das auch nur stillschweigende Beharren auf einer alternativlosen Singularität der menschlichen Identität setzt nicht nur uns alle in unserer Würde herab, sondern trägt überdies dazu bei, die Welt in Flammen zu setzen.“
Es ist diese Fremdzuschreibung singulärer Identitäten, die heutzutage mehr und mehr Konflikte prägen. Und nicht selten führt sie zu einem, wie der ehemalige Sonderberichterstatter der UN für Fragen der Religionsfreiheit, Prof. Heiner Bielefeldt, es bezeichnet, kulturellen Rassismus.
Vor wenigen Jahren musste ich miterleben, wie sich ein solcher kultureller Rassismus Bahn brach, weil die islamische Gemeinschaft der Ahmadiyya legitimerweise eine Bauvoranfrage für den Bau einer Moschee gestellt hatte. Diese Gemeinschaft ist 1985 vom damaligen Militärmachthaber Pakistans, Zia ul Haq, aus machtpolitischem Kalkül zu Nicht-Muslimen erklärt worden und wird seitdem in ihrer Ursprungsregion massiv verfolgt. Als die Bauvoranfrage publik geworden war, schlugen die Wellen hoch. Während einer öffentlichen Infoveranstaltung, zu der dann die Gemeinschaft eingeladen hatte, wurde sie konfrontiert mit unsäglichen Anschuldigungen, Aggressionen und schlicht falschen Behauptungen. Ein christlicher Lokalpolitiker meinte denn auch den Verantwortlichen der Gemeinschaft der Ahmadiyya entgegenschleudern zu müssen, dass alle Ahmadis Ehrenmörder seien und Ehrenmörder in dieser Stadt keinen Platz haben. Eine islamische Gemeinschaft, die seit vielen Jahren in der Stadt präsent und engagiert ist und aufgrund der völlig beengten Räumlichkeiten ihres kleinen Gebetsraumes legitimerweise eine Bauvoranfrage an die Stadt richtete, wird aufgrund dieser Antragstellung zu einer Gemeinschaft potentieller Mörder abqualifiziert. Gleichzeitig wird ihr jegliche Existenzberechtigung in dieser Stadt abgesprochen. Kultureller Rassismus – ermöglicht durch die Fremdzuschreibung singulärer Identitäten und der irrigen Vorstellung, dass Mitglieder einer Kultur, einer religiösen Gemeinschaft eine homogene Einheit, einen monolithischen Block bilden.
Amartya Sen setzt diesem völlig fehlgeleiteten Denken ein engagiertes Plädoyer für die Wertschätzung vielfältiger Loyalitäten und Identitäten eines jeden Menschen entgegen. Und er verurteilt in diesem Zusammenhang eine Logik des „Entweder – Oder“ – die zu Exklusion, zu Marginalisierung, Konflikten und Gewalt führt. Entweder sei jemand Inder oder Muslim – so die Überzeugung vieler fanatischer Nationalisten in seiner Heimat Indien. Aufgrund dessen haben viele Menschen in den letzten Jahren in Indien ihr Leben lassen müssen. Und es ist nur ein Konfliktherd weltweit, dessen Agitatoren mit Hilfe der Fremdzuschreibung singulärer Identitäten ihr Handeln zu rechtfertigen suchen.
Mit der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im vergangenen Jahr ist Amartya Sen für sein unermüdliches Engagement für ein friedvolles Miteinander in einer immer komplexeren, durch Globalisierung geprägten Welt ausgezeichnet worden. Sein Buch „Die Identitätsfalle – Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt“ ist ein lesenswertes und engagiertes Plädoyer für die Entwicklung einer globalen Identität, die zugleich nationale Bindungen und lokale Loyalitäten, vielfältige Identitäten und kulturelle Zugehörigkeiten zulässt, wertschätzt und ermöglicht. Und dies eröffnet einer Gesellschaft den Weg, ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, indem sie der Interkulturalität einen hohen Stellenwert einräumt und ihre Rahmenbedingungen, ihre Politik und ihr Handeln danach ausrichtet.
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